Der Kampf gegen Covid-19 braucht in allen Bereichen eine klare Orientierung an Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Amnesty International, Brot für die Welt, das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) zeigen in einer gemeinsamen Analyse die menschenrechtlichen Rahmenbedingungen und den Handlungsbedarf für eine rechtsstaatliche, transparente und kohärente Politik im Kontext von Covid-19 auf. Auf einer Fachtagung Ende Mai stellen sich Spitzenvertreterinnen und Spitzenvertreter der Parteien den Forderungen der Menschenrechtsorganisationen.
Die gemeinsame Analyse und eine Kurzfassung finden Sie hier.
Zum Schutz des Rechts auf Gesundheit und zur Eindämmung des Virus schränken Regierungen Grund- und Menschenrechte weltweit ein. Die Maßnahmen betreffen alle Menschen, einige Gruppen aber deutlich stärker als andere. Es ist eine Bewährungsprobe für Menschenrechte – national wie international.
„In einer Zeit, in der Menschenrechte im Kontext von Covid-19 durch die weltweite Diskussion um Impfstoffgerechtigkeit, durch Gerichtsentscheidungen und Parlamentsdebatten in aller Munde sind, Grundrechte aber auch als Argument missbraucht werden, um letztlich Verschwörungserzählungen, Hass und Hetze zu verbreiten, ist es ein wichtiges Signal, dass Menschenrechtsorganisationen aufzeigen, welche menschenrechtlichen Maßstäbe im Umgang mit der Covid-19-Pandemie gelten müssen“, sagt Julia Duchrow, Stellvertreterin des Generalsekretärs von Amnesty International in Deutschland. „Das Ergebnis ist ein menschenrechtlicher Kompass, der Herausforderungen, Bedrohungen und Lösungen für das deutsche Pandemiemanagement und für menschenrechtliche Krisen weltweit im Kontext von Covid-19 benennt.“
Verhältnismäßigkeit auch in Notlagen
Für Deutschland bedeutet der Kompass, dass „bei der Pandemiebekämpfung rechtsstaatliche Grundsätze im Zentrum stehen müssen: Ein demokratischer Staat muss auch in einer medizinischen Notlage Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Verhältnismäßigkeit und demokratische Legitimation seiner Maßnahmen sicherstellen“, sagt Ulf Buermeyer, Vorsitzender und Legal Director der GFF. „Um künftig eine möglichst effektive und grundrechtsfreundliche Pandemiebekämpfung zu gewährleisten, müssen die bisher ergriffenen Maßnahmen nicht nur hinsichtlich ihrer epidemiologischen Wirksamkeit evaluiert werden, sondern auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen und den mit ihnen einhergehenden Einschränkungen von Grundrechten.“
Hier gilt es, vor allem vulnerable Gruppen besonders zu schützen: „Das vielzitierte soziale Brennglas Covid-19 ist ein Handlungsauftrag: Diskriminierung und Ungleichheit müssen strukturell bekämpft werden – durch besondere Schutzmaßnahmen während der Pandemie, aber auch darüber hinaus“, sagt Maria Scharlau, Völkerrechtsexpertin bei Amnesty International in Deutschland. „Covid-19 macht sichtbar, dass in Deutschland viele Menschen gleich von mehreren Benachteiligungen betroffen sind, die sich gegenseitig verstärken. So sind zum Beispiel Frauen besonders von Covid-19 und den Folgen betroffen – und das häufig durch mehrere Faktoren. Häusliche Gewalt gegen Frauen hat durch Covid-19 und die Lockdown-Maßnahmen stark zugenommen. Frauen sind häufig in sogenannten ‚systemrelevanten‘ – aber gleichzeitig eher niedrig bezahlten – Berufen beschäftigt wie als Erzieherin oder Krankenpflegerin. Sie geraten daher eher in wirtschaftliche Not und tragen oft die Hauptlast der zusätzlich anfallenden Aufgaben innerhalb der Familie.“
Antisemitische Verschwörungsideologien
Die Organisationen warnen auch vor der zunehmenden Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien sowie vor rechtsextremen Akteuren im Umfeld der Proteste gegen Covid-19-Maßnahmen. „Kritik an Regierungshandeln – auch an den Covid-19-Maßnahmen – muss jederzeit möglich sein. Wer Hass, Hetze und Antisemitismus verbreitet, kann aber nicht glaubhaft für Grundrechte eintreten“, so Scharlau.
Weltweit verstärken die staatlichen Reaktionen zur Pandemiebekämpfung menschenrechtliche Missstände und soziale Schieflagen. Brot für die Welt sieht die Meinungsfreiheit und zivilgesellschaftliche Handlungsräume in Gefahr: „Ob in Brasilien, Kambodscha, den Philippinen oder auch in Simbabwe, in vielen Ländern erleben wir, wie Regierungen unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung kritische Berichterstattung und zivilgesellschaftliches Engagement unterdrücken und kriminalisieren“, sagt Silke Pfeiffer, Leiterin des Referats Menschenrechte und Frieden bei Brot für die Welt. „Die Bundesregierung sollte sich weltweit für den Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern und zivilgesellschaftlicher Handlungsräume einsetzen und darauf dringen, dass alle Staaten bei der Krisenbewältigung die Einhaltung der universellen Menschenrechte garantieren.“
Schutz entlang der Lieferketten
Das menschenrechtliche Engagement der Bundesregierung darf sich daher nicht auf Deutschland beschränken. Deutschland muss über die eigenen Grenzen hinweg für Menschenrechte und globale Solidarität als Kompass auch in internationalen Krisen eintreten. Das fängt bei einem Schutz der Menschenrechte entlang der Lieferketten an: „Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die unsere Alltagsprodukte herstellen, sind besonders schutzlos der Covid-19-Pandemie ausgeliefert“, sagt Miriam Saage-Maaß, Leiterin des Programms Wirtschaft und Menschenrechte beim ECCHR. „Nicht zuletzt deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass der Bundestag ein ambitioniertes Sorgfaltspflichtengesetz verabschiedet und Unternehmen verpflichtet, menschenrechtliche Sorgfalt entlang der gesamten Lieferkette auszuüben.“ Covid-19 hat auf drastische Weise die Schwächen globaler Wertschöpfungsketten offengelegt.
Arbeiterinnen und Arbeitern in der Textilindustrie in Bangladesch wird seit Jahrzehnten kein lebenssichernder Lohn gezahlt – mit dem Rückgang der Aufträge aus Deutschland standen sie im ersten Lockdown 2020 ohne Lohn und von Hunger bedroht auf der Straße. Migrantische Erntehelferinnen und Erntehelfer sind sowohl hier in Deutschland als auch in Ländern wie Brasilien oft schutzlos Covid-19-Infektionen am Arbeitsplatz ausgeliefert.
Auch für eine weltweit gerechte Verteilung von Impfstoffen gegen Covid-19 ist der Einsatz der Bundesregierung gefragt. Es kann nicht sein, dass reichere Staaten ihre Impfprogramme erfolgreich durchziehen, während ärmere Länder nahezu leer ausgehen. „Nach der Zustimmung der US-Regierung für den Antrag von Indien und anderen Ländern zur Aussetzung der Patentrechte muss auch die Blockadehaltung von Deutschland und der Europäischen Union fallen. Globaler Schutz der Gesundheit muss über den Schutz von Patenten und die Gewinnaussichten von Pharmaunternehmen gestellt werden“, so Miriam Saage-Maaß.
Terminhinweis: „Menschenrechte als Kompass in und aus der Covid-19-Krise“ ist auch das Thema bei einer Online-Tagung am 31. Mai (Montag) ab 14 Uhr. Die hier zitierten Expertinnen und Experten stellen ihre Positionen detaillierter vor und diskutieren ab 17 Uhr mit Spitzenvertreterinnen und Spitzenvertretern der Parteien Anforderungen an die Politik.
Weitere Informationen und Anmeldung unter covid19-menschenrechte.de.
Für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an die presse@amnesty.de
Pressekontakt:
Renate Vacker, Brot für die Welt
Tel.: 030 65211 1833, E-Mail: renate.vacker@brot-fuer-die-welt.de