Angesichts zunehmender Bandenkriminalität und Autokratie fordern deutsche Entwicklungs-Organisationen eine Politikwende gegenüber Haiti
Brot für die Welt, medico international und MISEREOR sind sehr besorgt über die Lage in Haiti. Schwer bewaffnete Banden sind in den vergangenen Tagen erstmals aus ihren angestammten Vierteln zu den wichtigsten Knotenpunkten der Hauptstadt Port-au-Prince vorgedrungen. Sie haben so die Versorgung im Süden und Norden des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Einschätzung der Entwicklungsorganisationen und ihrer haitianischen Partner ist diese Welle der Gewalt Teil einer kalkulierten Strategie des Präsidenten Jovenel Moïse, dessen reguläre Amtszeit abgelaufen ist. In einer als unregierbar definierten Situation präsentiert er sich als die einzige politische Lösung, um die Gewalt einzudämmen.
Die deutschen Entwicklungsorganisationen appellieren an die Bundesregierung und die weiteren Mitglieder der Core-Group, ihre Unterstützung für den illegitim herrschenden Moïse unverzüglich aufzugeben. Die Core-Group, der u.a. die EU, Frankreich, Deutschland und die USA angehören, zählt zu den wichtigsten Unterstützern der haitianischen Regierung. „Angesichts der dramatischen Entwicklung in Haiti reicht es nicht mehr aus, sich vorsichtig von der Gewalt zu distanzieren“, so Barbara Küpper von MISEREOR. Haiti brauche einen politischen Prozess, den die Bevölkerung selbst bestimmt. Bevor das Land wählen kann, müsse die Sicherheit wiederhergestellt sein. „In dieser Situation massiver Bedrohung können Wahlen nicht als Ausdruck freier Willensbildung gewertet werden. Nicht nur das ‚Ob‘, sondern auch das ‚Wie‘ von Wahlen ist entscheidend. Vielmehr müssen zunächst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die der Bevölkerung Vertrauen in den Prozess bieten können“, so Kirsten Bredenbeck von Brot für die Welt. Wahlen seien, so Katja Maurer von medico international, in den vergangenen zehn Jahren nie Teil eines demokratischen Prozesses gewesen, sondern Teil einer Kontroll- und Eindämmungs-Strategie der ausländischen Akteure, die die Wahlprozesse maßgeblich beeinflusst hätten.
Die haitianische Zivilgesellschaft hat sich organisiert und schlägt einen Übergangsprozess vor, der von einer Regierung aus Expertinnen und Experten geleitet werden soll. Aufgabe dieser Regierung wird es sein, Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, die Verantwortlichen für die Bandenkriminalität und deren Hintermänner vor Gericht zu bringen und den in ausführlichen Berichten nachgewiesenen Korruptionsvorwürfen etwa gegen Präsident Moïse juristisch nachzugehen. Diese Übergangsregierung sollte auch demokratische Wahlen vorbereiten. Für diesen durchaus schwierigen Prozess braucht die haitianische Gesellschaft Zeit und Unterstützung von außen, insbesondere durch die Core-Group.
Präsident nicht mehr rechtmäßig im Amt
Seit 1. Februar dieses Jahres regiert Präsident Moïse laut einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von Haiti nicht mehr rechtmäßig und hätte von seinem Amt zurücktreten müssen. Stattdessen ließ er die Richter absetzen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) spricht sich in ihrem neuen Bericht vom 30. Juni für einen Regierungswechsel aus. Sie empfiehlt die Neubesetzung des Wahlrates und schnellstmögliche Maßnahmen zur Wiederherstellung der Sicherheit für Leib und Leben der haitianischen Bevölkerung, um ihr Vertrauen in die staatlichen Institutionen wiederherzustellen.
Das haitianische Menschenrechtsnetzwerk RNDDH, das über viele Jahre auch durch deutsche Entwicklungshilfe-Gelder gefördert wurde, hat jüngst einen umfassenden Bericht über die seit sieben Monaten andauernde Gang-Gewalt vorgelegt. Allein in den Stadtvierteln Cité Soleil und Bel Air sind 145 Menschen zum Teil unter äußerst brutalen Umständen ums Leben gekommen. Der Bericht listet die Namen der Betroffenen und die Todesumstände auf. Er verweist darauf, dass in keinem Fall staatliche Autoritäten einschritten, um die Gewalt zu verhindern. Der Bericht weist nach, dass Gangs teilweise auch auf staatliche Veranlassung aktiv wurden. Die Banden setzen gezielt Häuser in Brand. Mehr als 18.000 Menschen sind zurzeit vor der Gewalt auf der Flucht und in Kirchen, Sportzentren, Schulen oder bei Familienangehörigen untergebracht.
In Bel Air haben bereits 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner den Stadtteil verlassen. Aus dem Stadtviertel Martissant berichten lokale Medien von mindestens 10.000 Vertriebenen. Seit 2018 sind laut Angaben eines gerade veröffentlichten Aufrufs mehrerer haitianischer feministischer Organisationen in zwölf Massakern 468 Menschen ums Leben gekommen.
Brot für die Welt, medico international und MISEREOR unterstützen seit vielen Jahren Partnerinnen und Partner in Haiti.
Kontakt:
Renate Vacker, Pressesprecherin Brot für die Welt, T: 030 65211 1833, renate.vacker@brot-fuer-die-welt.de
Ralph Allgaier, Pressesprecher MISEREOR T: 0241 442 529, ralph.allgaier@misereor.de
Katja Maurer, medico international, T: 0171 122 12 61, maurer@medico.de