Brücken bauen statt Mauern
Mit ihrem strengen Anti-Schleuser-Gesetz erfüllt die nigrische Regierung Forderungen der EU, Migration zu verhindern. Als Gegenleistung gibt es Geld aus Brüssel. Darunter leiden auch Geflüchtete ‒ und alle, die sie unterstützen.
Niger als EU-Außenposten
Gut 3.800 Kilometer Luftlinie trennen Agadez, die alte Stadt im Zentrum Nigers und Durchgangsort auf den Migrations- und Fluchtrouten Afrikas gen Norden, von Brüssel. 3.800 Kilometer, zwei Kontinente ‒ dazwischen die Sahara und das Mittelmeer. Und dennoch lässt sich behaupten, Niger sei ein Außenposten der Europäischen Union. Denn in Niger wird auf Geheiß und in Abhängigkeit von den Geldströmen aus Brüssel das erledigt, was sich in dem sperrigen Wort Migrationsvermeidungspolitik ausdrückt.
Die Grundlagen wurden 2015 gelegt: In Valletta, der Hauptstadt Maltas, fand im November jenes Jahres der EU-Afrika-Gipfel statt. Auf ihm wurde erstmals offiziell die Zusammenarbeit in Sachen Migration vereinbart. Das Motto: „More for More“, also mehr Fördergeld aus der EU gegen mehr Kooperation. Und Kooperation heißt in dem Zusammenhang: mehr Bereitschaft, Geflüchtete zurückzunehmen, die man in der EU nicht haben will. Oder gleich dafür zu sorgen, dass sie sich erst gar nicht auf den Weg machen.
Weg durch die Wüste wird immer gefährlicher
Von zentraler Bedeutung in der Zusammenarbeit: Der 26 Millionen-Staat Niger, eines der ärmsten Länder der Welt ‒ und allein wegen seiner Lage ein wichtiges Durchgangsland vieler Migrant:innen und Geflüchteten. Sie kommen aus den angrenzenden Staaten wie etwa Mali, Nigeria oder Senegal. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration IOM sind von Niger zwischen Januar und Oktober 2022 rund 380.000 Menschen in andere Länder migriert. Nicht alle wollen weiter Richtung Mittelmeer und Europa. Der Großteil bleibt in der Region. Gerade saisonale Arbeitsmigration gab es schon immer, etwa von Landwirt:innen, die wegen der Klimakrise in der Stadt einen Job suchen. Wiederum andere treiben Not und Gewalt in die Flucht; viele Länder werden von Extremisten terrorisiert und destabilisiert.
Konkret zeigt sich der Druck der EU in dem nigrischen Gesetz gegen Menschenschmuggel, Ordnungsnummer 2015-36. Dieses sogenannte Anti-Schleuser-Gesetz wurde 2015 in Niger verabschiedet und soll erfüllen, was die EU erwartet: Flüchtlingsströme eindämmen, Schluss machen mit der Migration gen Norden. Das Gesetz verbietet de facto den grenzüberschreitenden Transport von Migrant:innen ohne Dokumente nach Niger. Beihilfe bei der Ein- oder Ausreise aus dem Staatsgebiet steht unter Strafe. Aber auch Menschen, die Migrant:innen innerhalb des Landes transportieren oder ihnen eine Unterkunft bieten, werden verhaftet und angeklagt ‒ die Behörden gehen fast grundsätzlich von kriminellen Absichten der Transporteure aus.
Gefängnis oder Geldbuße
Besonders ins Visier nehmen sie den Transport von Migrant:innen von Agadez nach Norden. Migrant:innen von A nach B zu fahren und sie mit ausreichend Wasser oder Sonnenschutz auszustatten, sei vor 2015 ein legales, für die lokale Wirtschaft wichtiges Geschäft gewesen, das zur politischen Stabilität im Land beigetragen habe, sagt Moctar Dan Yayé vom Projekt Alarme Phone Sahara, es wird von Brot für die Welt mitfinanziert. Der Weg durch die Wüste war damals für die Migrant:innen sicherer. Heute werden Fahrer mit Menschenhändlern gleichgesetzt. Und weil die Formulierungen im Gesetz vage sind, haben die nigrischen Behörden viel Interpretationsspielraum, wie sie „illegale“ Migration bekämpfen können.
Ein Katalog listet die Strafen auf, die das Gesetz vorsieht. Grenzüberschreitender Transport: fünf bis zehn Jahre Gefängnis. Oder umgerechnet 1.500 bis 7.600 Euro Geldstrafe. Und wer einer nicht-nigrischen Person Beihilfe zum „illegalen“ Aufenthalt leistet, ohne geltende Aufenthaltsvorschriften einzuhalten, muss mit zwei bis fünf Jahren Gefängnis oder umgerechnet 750 bis 3.000 Euro Geldbuße rechnen.
Geflüchtete leiden am meisten
Wie eng die Regierung in Niamey und die europäischen Partner kooperieren, konnte man ein Jahr nach Verabschiedung des Anti-Schleuser-Gesetzes 2015-36 erleben. Anfangs wurde es nur zögerlich angewendet. Im Oktober 2016 aber reiste Angela Merkel nach Niger und traf den damaligen Präsidenten Mahamadon Issoufou. Merkel wollte, dass Niger die Route nach Europa schließt. Issoufou verlangte dafür eine Milliarde Euro für seinen „Aktionsplan gegen illegale Migration“. Nach dem Besuch setzte er das Gesetz 2015-36 konsequent um. Die Milliarde wurde 2017 bewilligt, gestreckt bis 2020; die Migrationszahlen gingen nur kurz zurück.
Am meisten leiden Geflüchtete und Migrant:innen unter den Folgen des Gesetzes. Denn die Passage durch den Wüstenstaat Niger ist gefährlicher und teurer geworden ‒ sie kostet heute bis zu 800 Euro pro Person. Es finden sich kaum noch Fahrer, die die Wege und Gefahren kennen. Sie müssen außerdem an vielen Checkpoints, die nach 2016 eingerichtet wurden, Bestechungsgelder zahlen, um überhaupt weiterfahren zu dürfen. Es gibt auch weniger Unterkünfte für Geflüchtete und Migrant:innen, weniger Hilfe, gleich welcher Art. Selbst IOM und das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR sind wegen der vielen Betroffenen und dem Mangel an Geldern überfordert; sie können in der Region Agadez nicht mehr alle Geflüchteten betreuen oder freiwillige Rückkehrprogramme organisieren. Menschen, die sich aus diversen Gründen dazu entschlossen haben oder gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, müssen sich nun andere Wege suchen. Sie sind noch stärker als früher auf sich allein gestellt.
Staat hat kein Interesse an starker Zivilgeselschaft
Seit es das Gesetz gibt, kämpft auch die Zivilgesellschaft in Niger ums Überleben. Den NGOs fehlt Geld, um sich weiterzubilden, zu recherchieren, zu dokumentieren, Computer zu kaufen, auch Anti-Spy-Technik. Ohne das können sie weder Missstände publik machen noch auf nationaler sowie EU-Ebene Lobbyarbeit für eine menschengerechte Migrationspolitik machen. Ihnen fehlt aber auch Geld, um Aktivist:innen an entlegene Einsatzorte zu bringen ‒ Niger ist eines der größten Länder Afrikas. Der Staat unterstützt sie nicht ‒ „Er hat kein Interesse an einer starken Zivilgesellschaft“, sagt Moctar Dan Yayé. „Mehr noch: Er unterdrückt sie massiv.“
Und so wagen es heute nur noch wenige Menschen in Niger, sich für Migrant:innen und Flüchtlinge zu engagieren. Ein neues Cyber-Criminality-Gesetz ermöglicht es dem Staatsapparat, Gespräche per Telefon oder WhatsApp abzuhören. „Wir haben heute Sorge, offen zu sprechen ‒ sie könnten uns deswegen ja verhaften“, sagt Moctar Dan Yayé. Die Regierung setzt auch sein Projekt Alarme Phone Sahara unter Druck: Ein Freiwilliger wurde neun Monate ohne Prozess inhaftiert, weil er sich dafür einsetzte, dass ein Migrant aus dem Gefängnis entlassen wird. Eine weitere Freiwillige saß drei Monate lang in Haft, weil eine Nachbarin sie diffamiert hatte. In beiden Fällen gab es kein Gerichtsverfahren.
Von der Nachbarin diffamiert
Heute wagen es nur noch wenige Menschen in Niger, sich für Migrant:innen und Flüchtlinge zu engagieren. Ein neues Cyber-Criminality-Gesetz ermöglicht es dem Staatsapparat, Gespräche per Telefon oder WhatsApp abzuhören. „Wir haben Sorge, offen zu sprechen ‒ sie könnten uns deswegen ja verhaften“, sagt Moctar Dan Yayé. Die Regierung setzt auch sein Projekt Alarme Phone Sahara unter Druck: Ein Freiwilliger wurde neun Monate ohne Prozess inhaftiert, weil er sich dafür einsetzte, dass ein Migrant aus dem Gefängnis entlassen wird. Eine weitere Freiwillige saß drei Monate lang in Haft, weil eine Nachbarin sie diffamiert hatte. In beiden Fällen gab es kein Gerichtsverfahren.
Hart ging der Staat beispielsweise gegen Moussa Tchangari vor. Der Direktor der NGO Alternative Espace Citoyen (AEC) kam 2020 mehrere Monate lang ins Gefängnis, weil er gegen das Versammlungsgesetz verstoßen habe. AEC ist eine der wichtigsten Stimmen gegen die Kriminalisierung der Fluchthilfe in Niger.
Klage gegen Anti-Schleuser-Gesetz
Das Gesetz 2015-36 verstoße zudem gegen das Protokoll der Economic Community of West African States (ECOWAS), kritisieren Initiativen wie Alarme Phone Sahara. Sie haben deswegen ‒ gemeinsam mit der italienischen Vereinigung für juristische Studien zur Einwanderung (ASGI) ‒ im Herbst 2022 beim Gerichtshof der ECOWAS eine Klage eingereicht. In der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft sind 15 Mitgliedsstaaten organisiert, auch Niger. Sie garantieren ihren Bewohner:innen Freizügigkeit, Visafreiheit und Handel innerhalb dieser Staatengemeinschaft. Doch so, wie sie das Gesetz auslege und anwende, verletzten die nigrischen Behörden de facto das Recht der ECOWAS-Bürger:innen auf Einreise und Reisen innerhalb Nigers, argumentieren die NGOs und verweisen auf zahlreiche Kontrollposten, die die Polizei seit 2015 errichtet hat. Nationale Polizist:innen, die von der europäischen zivilen Mission (EUCAP-Sahel Niger) einst für den Kampf gegen den Terrorismus ausgebildet und ausgerüstet worden sind, verhindern und verändern damit den innerhalb der ECOWAS eigentlich garantierten freien Austausch von Waren und die freie Bewegung der Menschen.
Es mag irritieren, dass Niger zugleich eines von nur vier Ländern Afrikas ist, das inzwischen ein Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen verabschiedet hat. Artikel 4 dieses Gesetzes vom Juni 2022 geht weit und garantiert das Recht auf Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Doch Stéphanie Wamba vom Afrika-Programm des International Service for Human Rights ist skeptisch: Solange die Regierung Nigers alle, die Migrant:innen und Flüchtenden helfen, über ein anderes Gesetz einschüchtert und verhaften lässt, „ist das Menschenrechtsgesetz nur ein Papier“.
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